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Sunday, November 3, 2013

4. Vincent: Verzehren

Im ersten Semester an der Paganini lernte ich im Jazzunterricht eine temperamentvolle Mitstudentin kennen und viele würden zustimmen, dass sie für ein Mädchen ein sehr loses Mundwerk hat. Madeleine Lavie war ambitioniert, stolz, immer voller Tatendrang und hatte die Eigenschaften einer Anführerin. Sie zweifelte nie an ihrem Können und würde trotz schlechter Performance behaupten, dass sie die Beste wäre. Wir verstanden uns trotz unterschiedlicher Persönlichkeiten ziemlich gut und es war auch Madeleine, die mich anfangs ansprach und mich einfach wie einen guten Freund behandelte. Meine bisherige Erfahrungen mit meinen Mitstudentinnen an der Paganini differenzierten sich kaum, denn die Mehrheit schien eine romantische Beziehung mit mir zu wollen. Ob das an meiner adeligen Herkunft lag? Die Familie Wachtfeldt hatte eine lange musikalische Geschichte und gehörte zur Elite. Madeleine war, wie gesagt, anders als viele andere Mädchen. Wenn ihr etwas nicht passte, sprach sie es offen aus. Durch die Blume sagen konnte sie anscheinend nichts und auf einige mochte ihre Art ein wenig zu harsch sein, aber so war die Miss Lavie.


Eines Tages, nach dem Jazzunterricht, schlug sie mir aus heiterem Himmel vor ein Quintett zu gründen. Ich war so sehr von ihrer Idee überrannt, dass ich keine Antwort darauf hatte.

"Ich kann den Erfolg förmlich riechen", Madeleine sah ganz verträumt in die Leere, "Slicing Sound wird unter meiner Führung aufblühen und die 0815 Orchester wie einen begossenen Pudel im Regen stehen lassen."

Ich wusste nicht, ob sie ihre Ziele nicht ein bisschen zu hoch gesetzt hatte und wie kam sie auf den Namen Slicing Sound? Das klang ein wenig Jazz untypisch, aber zurück zum eigentlichen Thema: Jazzquintett. Alles schön und gut, aber die bestehenden Orchester waren nicht zu unterschätzen und eine neue Gruppe aus dem Nichts bilden... Ich hatte da meine Zweifel...

"Hmm... ich weiss nicht recht..."

"Sei nicht so ein Waschlappen, Vince. Vertrau mir, es wird ein voller Erfolg. Airi, Cain und Sereina wären auch mit von der Partie und sie sind nicht übel."

Hmm, von den dreien hatte ich zumindest schon einmal was gehört, vor allem soll Airi Oracion eine unbeschreiblich begnadete Gitarristin und Sängerin sein. 

"Wenn wir Erfolg haben, wird deine Schwester dich auch beachten", zwinkerte Madeleine mir zu und drückte meine Motivation nach oben. Anais... sie ging mir nur noch aus dem Weg und ich fand keine Antwort, weshalb sie mir das antat. Madeleines Worte machten mich hellhörig und ich ging auf ihre verrückte Idee ein. Anais...

Meine anfänglichen Zweifel verschwanden nach dem ersten Semester, denn wie Madeleine versprochen hatte, hatte sie die Jazzgruppe innerhalb kürzester Zeit zum Erfolg geführt. Vieles hatten wir ihrem Spiel zu verdanken und auch Airi hatte ihren Teil dazu beigetragen. Sie war ausgesprochen talentiert und schien einen sechsten Sinn zu haben, wo die Schwerpunkte eines Liedes lagen. Cain, unsere Trompete, der seit geraumer Zeit mit Airi zusammen war, konnte stolz auf seine Freundin sein. Auch im zweiten Semester waren wir eine der besten Jazzgruppen an der Paganini, die einige der Top Orchestren zu überschatten vermochten. Mitstudenten standen Schlange, um ein Mitglied bei der Slicing Sound zu werden. Doch Madeleine lehnte jeden Anwärter und vor allem Anwärterinnen vehement ab. Auch verhielt unsere Leiterin sich in letzter Zeit ziemlich fraglich: während sie zu Airi ein gutes Verhältnis pflegte, war sie ziemlich kalt und streng zu unserer Pianistin Sereina. Sereina war zierlich, auf eine Art zerbrechlich, und schien mit dem Druck nicht klar zu kommen. Manchmal konnte sie spielen wie Matthieu Goodlife, an anderen Tagen war sie lediglich nur passabel und wurde von Madeleine und Airi überschattet. Ich konnte sie gut leiden und wollte ihr helfen, wollte versuchen den Grund für ihr Lampenfieber zu finden. Aber immer, wenn ich einen Moment fand, während dem ich mit Sereina alleine sein konnte, erschien Madeleine wie aus dem Nichts und unsere arme Pianistin bekam das ganze Gezicke ab. Irgendwann ging Sereina mir ausserhalb der Proben und Konzerte aus dem Weg und ihr Lampenfieber und ihre Nervosität schienen sich zu verschlimmern.

Was Anais betraf, sie sah mich immer noch nicht an. Mittlerweile hatte sie sogar angefangen mir morgens aus dem Weg zu gehen und verliess das Wohnhaus früher als sonst. Zumindest schien sie aufgehört zu haben mit diesem C zu reden, was leider mein einziger Trost war... Immer wenn ich an meine geliebte Schwester dachte, zog sich mein Herz vor Schmerz zusammen und ich wollte am liebsten alles hinschmeissen und sterben.


"Willst du mit mir ausgehen?"

"Huh?", ich war gerade dabei meine Noten einzupacken und anschliessend zum Hauptgebäude zu eilen, damit ich mit Anais reden konnte. Aber Madeleines Frage, liess mich mein Vorhaben augenblicklich vergessen. Stattdessen sah ich sie perplex und schockiert zugleich an.

"Ich hab gefragt, ob du mit mir ausgehen willst, Dummchen", Madeleine wurde ganz rot und sah verlegen zur Seite, "Man munkelt bereits über uns."

Ich hatte Mühe meinen Unterkiefer oben zu behalten und realisierte erst jetzt, was los war. Immer wenn Madeleine einen neuen Song gefunden hatte, kam sie als allererstes zu mir. Das Ablehnen von neuen Anwärtern, die gezielten Zickereien gegen Sereina, sogar die Gründung der Jazzgruppe! All das war geplant! Madeleine und ich verstanden uns gut und ihr rauer Ton verschleierte ihre Gefühle und Zuneigung, die sie für mich hegte. Doch irgendwie schien jeder, abgesehen von mir, zu wissen, was los war. 

Anais...

"Madeleine... ich...", ich schluckte schwer, denn ich wollte sie nicht verletzen, was leider unausweichlich war, "Anais..."

Von einer Sekunde auf die andere wurde ihr Gesicht zinnoberrot, denn abgesehen von all meinen Fans, war meine Schwester der grösste Dorn in ihrem Auge. Wann immer ich Anais erwähnte, zuckte Madeleines Auge zusammen, als ob ich sie mit einem Messer schneiden würde.

"Anais, Anais, Anais! Ich kann ihren verfluchten Namen nicht mehr hören!", schrie die Bassistin aufgebracht, "Wie besessen bist du von ihr, deiner eigenen Schwester?! Kein Wunder, dass sie Zuflucht bei Samuel sucht."

"Samuel Cheshyre?"

Anais verbrachte ihre Zeit mit jemand anderem zusammen? Cheshyre... ein grandioser Bassist, obwohl ich bereits gehört habe, dass er noch nicht lange spielt. Cheshyre... Meine Seele wurde wie ein wertloses Stück Papier langsam in viele Einzelteile zerrissen und in den nächstbesten Container geworfen. Es tat so schrecklich weh. Wieso? Wieso tat Anais mir so was Schmerzliches an? War ich ihr so zu wider, dass sie mich nicht mehr sehen wollte? Meine Sicht wurde von meinen aufgequollenen Tränen getrübt. 

"Vince?"

Eine Träne kullerte meine Wange herab und die einzige Person, an die ich denken musste, war Anais. Wieso tat sie mir so etwas an? Ich spürte, wie Madeleine mich in die Arme nahm und mir sanft den Rücken streichelte. Wieso tat sie das? Ich wollte nicht, dass sie mich umarmte, ganz zu schweigen anfasste. Denn sie war nicht viel besser als meine Fans, nein, sie war weitaus abstossender. Was dachte Madeleine Lavie sich dabei, sich mein Vertrauen zu erschleichen und dann zu glauben, dass ich das gleiche für sie empfinden würde? Ich verabscheute solche Leute, vor allem wusste sie genau, dass es nur Anais für mich gab, auch wenn ich sie verlieren sollte.


"Hör auf zu weinen, Idiot", sie klang besorgt und schuldig zu gleich, "Die Leute werden noch denken, dass ich für dein Leiden verantwortlich wäre."

Nein, Madeleine Lavie hatte keine Schuld, nicht unsere ach so grandiose, temperamentvolle Anführerin, die sich unglücklicherweise in den Falschen verliebt hatte. Meine Tränen liefen unaufhaltsam meine Wangen runter, mein Herz schmerzte, wie noch nie zuvor. Ich wollte nicht mehr sein. 

"Alles wird gut", redete sie auf mich ein, "Sie ist deine Schwester und es ist nicht gut, wenn Geschwister sich wie ein Liebespaar lieben."

Anais... Ich war in Gedanken bei meiner geliebten Schwester und zugleich wurde mir übel, wenn ich an diesen Samuel Cheshyre dachte. Dass er mehr Zeit mit Anais verbringen konnte als ich, kränkte mich so sehr, dass ich Madeleine Lavies Kuss gleichgültig unter Tränen hinnahm.



Eine Woche später kam ich mit Sereina Canzone zusammen und Madeleine Lavie verliess, erbost und enttäuscht, die Slicing Sound. Meine Beziehung zu unserer Pianistin hielt, zum Glück, nur ein Semester lang, während Anais zu diesem Cheshyre eine Art geschwisterliche Bindung entwickelte. 

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