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Monday, October 14, 2013

1. Anaïs: Ich nenne ihn C

Jeden Tag wenn ich in den Spiegel sah, stand dieser junge Kaukasier hinter mir, der mich seit dem Tod meiner Eltern begleitete. Zu diesem Zeitpunkt war ich sechs Jahre alt gewesen. Ich hatte ihn als niedlichen, kleinen Jungen in Erinnerung, er hatte blondes Haar und rosane Pausbacken, doch seine hellblauen Augen bereiteten mir Alpträume und ich litt in den ersten zwei Jahren unter Verfolgungswahn.
Nachdem ich adoptiert wurde, hatte ich jeden Morgen geweint, weil ich den Jungen in jeder meiner Reflexionen sah und das Schlimmste war, ich konnte nichts dagegen tun. Meine Adoptiveltern erklärten mir, als ich ihnen von dem Jungen erzählte, dass er der Fluch sei und mich bis auf mein Lebensende verfolgen würde. Ob er mir körperlich schaden könnte, wussten sie selber nicht. Ich durchforstete deswegen die Familienbibliothek in der Hoffnung eine bessere Antwort finden zu können, doch ich fand nur generelle Erklärungen über den Fluch. Mit 13 Jahren fand ich mich schliesslich mit dem Gedanken ab, dass ich niemals ein normales Leben haben würde und dass der Fluch womöglich für immer ein Teil von mir sein wird. Er wuchs mit mir auf, seine blonden Haare wurden ein bisschen dunkler, seine Pausbacken verschwanden. Zwar bekam er nie den Wachstumsschub, den jeder Junge in der Pubertät hatte, hielt aber mit mir von der Grösse her gut mit. Eines Tages sass ich vor meinem Spiegel und redete zum ersten Mal mit ihm.

"Mère und Père meinen, dass du für immer an meiner Seite sein wirst. Stimmt das?"

Er schien überrascht zu sein, liess sich aber nichts anmerken, ausser dem kurzen Abwenden seines Blickes. Ich nahm das einfach als Ja an.

"Wie heisst du?"

Der Junge zögerte, bevor er mir eine Antwort gab, und wich wieder meinem Blick aus. Nach langem Schweigen sagte er nur 'Curse'. Das war der englische Begriff für Fluch. Ich lächelte ihn an und beschloss darauf ihn 'C' zu nennen.


Mit 16 Jahren meinte mein Bruder Vincent, dass ich aufhören sollte mit C zu reden. Immer wenn ich aufwachte und in den Spiegel sah, lächelte ich C zu und wünschte ihm einen guten Morgen. Auch im Haus sprach ich mit dem Fluch, obwohl er mir nie eine Antwort gab. Andere Menschen in meiner Umgebung konnten ihn nicht sehen und daher wirkte es ein bisschen verstörend, wenn eine 16-Jährige angeblich Selbstgespräche führte.

"C ist ein Teil von mir. Du verstehst es nicht."

"Das ist mir egal, aber meine Freunde finden dich schräg und ich habe keine Lust zu hören, dass Vincent Wachtfeldt mit einer Verrückten seine Zeit vertrödelt."

Wir hatten uns lauthals im Salon des Hauses gestritten und weil auch da Spiegel hingen, sah ich wie C auf Vincent zu ging und seine Hand auf seine Schläfe legte. Mein Bruder schien davon nichts mitzubekommen und bis heute wusste ich nicht, was C genau getan hatte. Wie dem auch sei, C wandte sich darauf von Vincent ab und stellte sich wieder hinter mir hin, als ob nichts gewesen wäre. Mein Bruder sah mich verwirrt an, seine Wut auf mich verschwand und er verliess wortlos den Salon.


Als Vincent und ich ein Jahr darauf an der Paganini aufgenommen wurden, begann C mich in meinen Träumen heimzusuchen. Meistens lag ich auf einem Kanapee vom Salon meines Adoptivelternhauses und C spielte mir was am Klavier vor. Es waren meist Sonaten und Konzerte in moll, nie hörte ich ein Stück in Dur. Ob das eine Bedeutung hatte? Ich wusste es nicht.

"Paganini, huh?"

"Ja."

"Dort wirst du mich nur noch in deinen Träumen sehen."

"Wieso?"

"Ich habe keine Lust eingefangen zu werden."

Wir redeten lange miteinander, unterhielten uns über sinnlose Themen bis ich aufwachte.


Vincent fing an sich ein wenig eigenartig zu benehmen. Er war nie besonders einfühlsam und genoss die Aufmerksamkeit seiner Verehrerinnen. Doch plötzlich war ihm dies lästig geworden und begann sich um mein Wohlbefinden Sorgen zu machen. Anfangs nahm ich das einfach so hin, weil ich es süss fand, dass er sich um seine kleine Schwester sorgte. Aber mit der Zeit war er so unerträglich anhänglich geworden, dass ich anfing ihm tagsüber aus dem Weg zu gehen. Das ging zwei Monate lang so bis ich eines Tages in einen Cellisten lief. Samuel Cheshyre.

"Du kannst immer zu mir kommen, wenn du Gesellschaft brauchst", meinte er. Seine Worte waren so warm und gaben mir Hoffnungen. Für einen Moment vergass ich meine Sorgen um Vincent und C. Für einen Moment sah ich ein mögliches normales Leben vor mir. Für einen Moment war ich glücklich.

"Vincent nervt dich?", fragte C mich eines Traumes. Ich nickte bloss.

"Es war so, als ob man ihn ausgewechselt hatte. Ich hatte ihn lieber, als er sich ab und zu nach mir erkundigte und nicht permanent nach meiner Nähe sehnte."

C fing an zu kichern, sein Klavierspiel verstummte zunächst, doch als sein Kichern sich zu einem Lachen des Wahnsinns ausartete, hämmerte er irgendwelche Töne zusammen. Die schiefe Melodie brannte sich in meinem Gedächtnis ein und sein Gesicht verzerrte sich zu einer teuflischen Fratze.

"Armes kleines Ding", säuselte C und ich wachte auf. Es war als ob er mich aus meinem Traum geschmissen hatte und mir wurde bewusst, dass C langsam die Macht über mein Leben erlangte. Ich hörte auf mit ihm zu reden, doch in meinem Herzen wusste ich, dass es unmöglich war ihm zu entkommen. Allein meine Bilder zeigten mir, was für einen starken Einfluss C auf mich hatte. Meine Werke wurden Tag für Tag düsterer und wann immer ich einen Stift oder einen Pinsel zur Hand nahm, spürte ich seine Präsenz. Wenn ich vor meiner Leinwand sass, konnte ich davon ausgehen, dass C unmittelbar hinter mir stand und nach meiner Hand griff. Jeden Strich, den ich auf die Leinwand malte, jede Farbe, in die ich meinen Pinsel tauchte, war nicht in meiner Absicht. C führte meine Hand wie ein Marionettenspieler seine Puppe und manchmal hatte ich das Gefühl seinen Atem in meinen Nacken spüren zu können.

"Lass mich selber malen", flehte ich C an, doch er dachte nicht daran mir meine malerische Freiheit zurückzugeben. In meinen Träumen suchte er mich zwar nicht mehr heim, doch meine Werke würden für immer seine Handschrift auf Kosten meiner Seele tragen.

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