Das alte Gebäude vor mir war
nicht meine Uni. Ehrlich gesagt, befand ich mich nicht einmal auf dem Rosenberg
von Sankt Gallen, sondern eher irgendwo in einer Altstadt Südfrankreichs oder
Italiens. Oder war es sogar Spanien? Die Bauart der ganzen Umgebung sah
jedenfalls stark nach dem Mittelmeerraum aus. Die Universität selbst ähnelte
mehr einem katholischen Kloster als einem Bildungsinstitut. Naja, wenigstens
strahlten die Farben mehr Wärme aus als das kalte Grau des Betons, aus dem
meine Uni gebaut wurde. Seltsamerweise wusste ich aus irgendeinem Grund ganz
genau, wo der Eingang der klosterartigen Uni war, und ging da auch hinein. Die
nächste Vorlesung begann gleich. Volkswirtschaft, sofern ich mich erinnern
konnte, oder war es Bundesstaatsrecht? Wieso sollten die Südeuropäer überhaupt
einen Vortrag über das Schweizerbundesrecht halten? Ganz in Gedanken versunken,
stiess ich die alte Holztür aus massivem Holz, die die Wirtschaftsfakultät von
der Theologischen trennt, auf, als mir plötzlich ein bekanntes Gesicht
entgegenkam. Ich starrte die Person wie versteinert an. Woher kannte ich diesen
Studenten? Moment, diese stechenden, grüngesprenkelten, braunen Augen und die
unverkennbaren Augenbrauen, die genauso gut dem Teufel gehören könnten, hatte
ich schon einmal gesehen. Genauer gesagt war ich indirekt dazu gezwungen, sie
fünf Jahre lang zu ertragen, deshalb war es praktisch unmöglich für mich, diese
auffälligen Merkmale einfach zu vergessen. Ich hatte es versucht, aber bis zum
heutigen Tag hatte ich es nicht geschafft, sie aus meinen Erinnerungen zu
verbannen. Seine Gesichtszüge hatten sich kaum verändert, nur seine Haarfarbe
schien heller zu sein als damals. Sie stand ihm. Er musterte mich ebenfalls
eine halbe Ewigkeit und schien sich nun auch langsam an mich zu erinnern, denn
seine Augen blitzten vor Freude und Überraschung. Auch das mir allzu bekannte
verschmitzte Lächeln huschte über seine Lippen.
„Wie lang ist es her, seitdem
wir uns zuletzt gesehen haben?“
Seine Augen strahlten wie die
Sterne am Nachthimmel. Wie oft hatte ich mich darin verloren, wenn ich mit ihm
redete? Meine Wangen wurden ganz rot und ich fühlte die mir in den Kopf
steigende Hitze. Ich war definitiv nervös, denn meine Knie schienen auf einmal
aus Pudding zu bestehen.
„Fünf Jahre, schätze ich.“ Die
Vorlesung war mir plötzlich
egal, weil ich meinen ehemaligen
Rivalen nicht wieder wegen belanglosen Dingen aus den Augen verlieren wollte.
„Hasst du mich immer noch, weil
ich dir damals die Tür ins Gesicht geschlagen habe?“
Das hatte ich wortwörtlich getan
und bereuen tat ich dies erst seit zwei Jahren. Ich hoffte, dass er sich nicht
mehr daran erinnerte, und sandte sogar ein Stossgebet zum Himmel:
„Lieber Gott, wenn es dich
wirklich gibt, steh mir zur Seite und mache, dass er mir verzeiht. Besänftige
sein
Gemüt.“
Mein Herz fing an, schneller zu
schlagen, und mein Blick hing gespannt an seinen Lippen. Ich wartete darauf, dass
er mir die Worte sagte, die ich von ihm hören wollte. Ich wollte endlich
Frieden schliessen und die Sache von damals für immer ruhen lassen.
„Nein, ich hasse dich nicht
mehr, obwohl ich Grund dazu hätte. Ich verzeihe dir.“
Was? Ich war verwirrt und
starrte ihn wie vom Blitz getroffen an, denn ich konnte nicht glauben, dass er
mir einfach so vergeben hatte.
„Wirklich?“
„Das habe ich dir gerade
gesagt.“
Plötzlich nahm er mich aus
heiterem Himmel in die Arme und drückte mich an sich, als ob es den furchtbaren
Streit nie gegeben hätte. Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich begriff, was
gerade geschah, dann jedoch konnte ich seine Umarmung erwidern. Ich hatte ihn
vermisst, sehr sogar. Aus der Ferne drangen Klänge eines Klaviers an meine Ohren.
Kim Hyun Joongs Please, ganz klar, denn ich würde die Anfangsmelodie meines
Lieblingsliedes immer wiedererkennen: Plötzlich fand ich mich in meinem Bett wieder.
Sechs Uhr morgens. Ich stellte den Wecker ab und starrte nachdenklich zur
Decke. Wehmut überkam mich, mein Herz war schwer, denn ich konnte keinen
Frieden finden und fragte mich, ob der Traum etwas zu bedeuten hatte. Werde ich
ihn wiedersehen?
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